Endlich an der Luft, die frische Luft, die ich so sehr vermisst habe.
Befehle, Schreie, Menschen, die Menschen irgendwohin treiben
Menschen, die andere Menschen verraten, belügen
Menschen, die anderen Menschen Leid zufügen
Zwei Klassen von Menschen. Menschen mit und ohne Stern.
Trotzdem Menschen
Wir wurden verraten.
Warum mussten wir uns verstecken?
Jetzt kommen wir in ein Straflager
Weil wir uns nicht freiwillig gemeldet haben
Warum sollten wir uns melden?
Weil wir Juden sind?
Weil wir eine Gefahr sind?
Für wen?
Für die Menschen?
Für die Deutschen?
Für die Niederländer?
Wir kommen in die Waggons
Ganz normale Waggons
Mit Fenstern
Die Türen werden von aussen geschlossen
Aber die Fenster sind nicht verdunkelt
Ich sehe die Landschaft
Felder, Wiesen
Ich sehe den Himmel und die Wolken
Es ist Sommer
August
Und ich bin tagsüber endlich wieder „draussen“
Das Versteckspiel hat ein Ende
Ich bin erleichtert
Glaube, dass doch alles gut wird
Ich will nicht nachdenken
Nicht jetzt
Habe so viel nachgedacht
Habe so viel geschrieben
Ich will einfach das Licht geniessen
Die Sonne
Den Sommer
Durch die Glasscheiben
Des Zuges, der uns ins Straflager bringt
Wir werden bestraft, weil wir anders sind
Und Menschen brauchen Menschen, die anders sind
Menschen, die an allem schuld sind
Menschen, die man bestrafen kann
©Jörg Wagner

Unscheinbar zwischen zwei neu eingebauten Fenstern sah ich die Schrift an der Wand

RASIR
SALON

Einmal davon abgesehen, dass ich nicht wusste, dass man das Wort “Rasieren“ einmal ohne das “Verlängerungs-E“ geschrieben hat, kamen mir Gedanken in den Sinn. Gedanken an eine Zeit, die ich nie erlebt habe. Gedanken an die Zeit Anfangs des zwanzigsten, des vorigen Jahrhunderts.

Da sitze ich nun glücklich auf meinem reservierten Platz, ICE zweiter Klasse. Sparpreis, BahnCard 25, alle Register gezogen. Online gebucht, sogar Sitzplatz ausgesucht. Bewusst in der „Ruhezone“, also da, wo kleine Schaubilder auch denen, die des Lesens nicht mächtig sind, zeigen „Bitte Ruhe“, „Kein Mobiltelefon“.
Ich mag das, die Ruhezone, wenn sie denn mal ruhig ist.
Es war ruhig, bis ein Schmalspurmanager zugestiegen ist. Rollkoffer, oder auch Trolley genannt hinter sich her ziehend, steuert er den Platz am Tisch des Grossraumwagens an.

Morgen ist wieder Montag. Auch in Dresden. Und morgen ist auch der 9. November. In ganz Deutschland.  Und in Dresden. Jeden Montag finden in Dresden Demos statt. Von einer Gruppierung,  die sich PEGIDA nennt. PEGIDA ist in aller Munde, in allen Medien. PEGIDA regiert schon längst die Tagespresse. PEGIDA darf bald sagen und tun, was sie will. Hat fast nichts zu befürchten,  egal wen oder was sie verleumden, wen sie pauschal verurteilen.  Wir laufen Gefahr, uns an PEGIDA und diejenigen, die sich darin verstecken, zu gewöhnen.
Warum ich das heute schreibe?
Weil in der Nacht vom 9. Auf den 10. November 1938, also vor 77 Jahren die Novemberpogrome stattfanden. Näheres dazu unter
https://de.m.wikipedia.org/wiki/Novemberpogrome_1938
Und wir haben als Bundesrepublik Deutschland der Welt versprochen,  dass von unserem Boden so etwas nie wieder passieren soll.