Es scheint, dass – endlich – die Gefühle wieder die Oberhand in unserem Leben gewinnen. Wir hören wieder zu, wenn Menschen über ihre Gefühle sprechen. Und dies nicht nur im therapeutischen Gesprächskreis, nein, endlich ziehen die Gefühle sogar in den harten Businessalltag ein.
Manche Zeitgenossen sind sogar überschwänglich gefühlsbetont und erzählen einem ununterbrochen über ihre Gefühle.
Auch im redaktionellen Teil der Medien sind Gefühle im Kommen.
Wir werden wieder Mensch („ich bin keine Maschine“, ja ich weiss, Tim Bendzko, musst du ja auch nicht sein)
Es beginnt schon morgens beim Wetterbericht. Es hat minus 5 Grad, aber das interessiert mich nicht. Mich interessiert, dass Herr Wetterfrosch es als „minus 10 Grad“ fühlt. Er begründet, dass es am kalten Wind liegt. Aha. Wenn ich jetzt in Unterhose und Socken raus gehe, fühle ich bestimmt minus 20 Grad.
Ich selbst hab zwar sieben Stunden geschlafen, waren aber nur gefühlte drei. Da ich aber nur Zeit für einen Kaffee habe, fühle ich mich nach gefühlten drei Kaffee auch nicht besser. Bin heute über Nacht gefühlte fünf Jahre älter geworden. Der Spiegel sagt zwei Jahre.
Vor dem Auto angekommen, habe ich eine gefühlte halbe Stunde gefühlt einen halben Meter Schnee vom Auto gekehrt. Musste dann in gefühltem Schritttempo hinter jemandem herschleichen, der wahrscheinlich statt der doch recht griffigen Strasse eher gefühltes Glatteis hatte.
Mein Computer brauchte eine gefühlte Viertelstunde, um hochzufahren und danach hatte ich gefühlte 200 Mails in der Inbox. Jede dieser vermaledeiten Mails musste ich gefühlt drei Mal durchlesen, bis ich verstanden habe, was die Leute von mir wollten.
In der Besprechung fängt der Chef dann auch noch an, über Gefühle zu sprechen. „Ich habe Sie ja gefühlte acht Wochen nicht mehr gesehen“ – „Bei mir waren es nur gefühlte zehn Stunden“ hätte ich am Liebsten gesagt.
Dann geht es weiter „Wenn ich als Kunde gefühlte zwei Tage auf eine Antwort warten muss, dann ist das zu lange“
Arbeiten wir jetzt daran, noch schneller zu werden, oder ist das Gefühl unserer Kunden ausschlaggebend?
Nach gefühlten vier Stunden ist die dreissigminütige Besprechung endlich vorbei und ich stelle mich als letzter an die gefühlte 2 Kilometer lange Schlange an der Kaffeemaschine. Gefühlte 100 Leute stehen noch vor mir, als ich auf meinem Mobiltelefon einen Anruf bekomme. Das Ding klingelt mit gefühlten 120 Dezibel. Nach gefühlten 10 Minuten hört es endlich auf zu klingeln. Ich will erst mal einen Kaffee. Schon wieder das Telefon… Der Kollege ist dran „Boah, nach gefühlten fünf Stunden endlich beim Kunden angekommen, hatte einen gefühlten 20 Kilometer Stau“. Ist mir gefühlt eigentlich egal, vor allem, weil ich vermute, dass er ganz vorne stand und die Ursache für den Stau war.
Nach gefühlten zwei Stunden komme ich endlich an meinen Kaffee, der gefühlt zu lauwarm und zu dünn und real zu teuer ist.