Gegen das Vergessen: 8. August 1944 – Zugfahrt nach Westerbork

Endlich an der Luft, die frische Luft, die ich so sehr vermisst habe.
Befehle, Schreie, Menschen, die Menschen irgendwohin treiben
Menschen, die andere Menschen verraten, belügen
Menschen, die anderen Menschen Leid zufügen
Zwei Klassen von Menschen. Menschen mit und ohne Stern.
Trotzdem Menschen
Wir wurden verraten.
Warum mussten wir uns verstecken?
Jetzt kommen wir in ein Straflager
Weil wir uns nicht freiwillig gemeldet haben
Warum sollten wir uns melden?
Weil wir Juden sind?
Weil wir eine Gefahr sind?
Für wen?
Für die Menschen?
Für die Deutschen?
Für die Niederländer?
Wir kommen in die Waggons
Ganz normale Waggons
Mit Fenstern
Die Türen werden von aussen geschlossen
Aber die Fenster sind nicht verdunkelt
Ich sehe die Landschaft
Felder, Wiesen
Ich sehe den Himmel und die Wolken
Es ist Sommer
August
Und ich bin tagsüber endlich wieder „draussen“
Das Versteckspiel hat ein Ende
Ich bin erleichtert
Glaube, dass doch alles gut wird
Ich will nicht nachdenken
Nicht jetzt
Habe so viel nachgedacht
Habe so viel geschrieben
Ich will einfach das Licht geniessen
Die Sonne
Den Sommer
Durch die Glasscheiben
Des Zuges, der uns ins Straflager bringt
Wir werden bestraft, weil wir anders sind
Und Menschen brauchen Menschen, die anders sind
Menschen, die an allem schuld sind
Menschen, die man bestrafen kann
©Jörg Wagner

Heute, am 8. August 1944, wurde Anne Frank mit den anderen aus „dem Hinterhaus“ in das Durchgangslager Westerbork gebracht, nachdem sie am 4. August von der Gestapo festgenommen wurden.
Otto Heinrich Frank, Edith Frank-Holländer, Margot Betti Frank, Annelies Marie Frank, Hermann van Pels, Hermann van Daan, Auguste van Pels,,Peter van Pels, Peter van Daan und Fritz Pfeffer fahren in einem „normalen Personenzug“ in das Lager. Anne macht es nichts aus, dass die Tür verschlossen ist, berichtet Otto Frank. Sie geniesst es, die Felder, die Wolken, die Landschaft zu sehen.
In Westerbork kommen die Gefangenen in das Straflager. Sie hatten sich nicht freiwillig gemeldet, und deshalb mussten die Frauen dort Batterien aufbrechen und die Bestandteile sortieren. Es war eine schmutzige und gesundheitsschädliche Arbeit. Aber man durfte miteinander reden, was bei der eintönigen Arbeit eine grosse Erleichterung war. Anne war nach der langen Zeit im „Achterhuis“ sogar eher positiv gestimmt. Sie konnte sich bewegen, musste sich nicht mehr verstecken. Auch die anderen bekamen immer wieder die Erfolgsmeldungen mit, in denen die Siege der Alliierten beschrieben wurden. Aber sie bekamen auch mit, dass immer mehr Menschen in die sogenannten Konzentrationslager verfrachtet wurden. Hoffen und Bangen hielt sich die Waage.
Leider hat nur Otto-Heinrich Frank die Befreiung der Alliierten erleben dürfen. Er wurde aus Auschwitz von der sowjetischen Armee befreit.

„Nie Wieder“ heisst: Wir sind aufgefordert, nicht zu schweigen, nicht zu dulden. Wir sind für das verantwortlich, was heute geschieht. Denkt daran.

Dieser Artikel ist Teil des Projektes „Gegen das Vergessen“, das Sylvia Kling in ihrem Blog ins Leben rief, inspiriert wurde von Theaterregisseur und Schauspieler Jürgen M. Brandtner, der vor fünf Jahren mit dem Leseabend „Aktion wider den undeutschen Geist“  Texte zur nationalsozialistischen Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 vorlas.

Die Liste der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Projektes „Gegen das Vergessen“ ist unter https://sckling.wordpress.com/category/gegen-das-vergessen/ zu sehen